Meine mündliche Prüfung und ich – Von Utilitarismus und Religionsphilosophie im Jahr 2021

Lesedauer: 4 Minuten

Ich will hoch hinaus in meiner mündlichen Prüfung
Wird es auch für mich hoch hinaus gehen?

LEBENSSTORYS 4 Wochen nach meinen schriftlichen Abiturprüfungen stand meine mündliche Prüfung im Fach Ethik an. Es waren komische vier Wochen voller philosophischer Theorien, Lernstress und freien Nachmittagen. Aufgeregt sah ich dem Prüfungstag entgegen. Würden sich meine Mühen auszahlen und mit einem tollen Abiturschnitt belohnen?

Hier geht’s zum Beginn meiner Abiturphase: meinem letzten Schulhalbjahr und den schriftlichen Prüfungen.

22.06.2021: Liebes Tagebuch,
ich kann nicht glauben, dass ich nie wieder für die Schule lernen muss! Heute Morgen war meine mündliche Prüfung – und Gott, war ich aufgeregt gestern. Mir war den ganzen Tag irgendwie schlecht. Und dann – kaboom! – stand ich auch schon 7:20 Uhr im Prüfungsraum und zog Prüfungsthema 2: Utilitarismus. Ich hatte eine Maske auf, deswegen konnten die Lehrer nicht sehen, wie ich mich gefreut habe…

Langwierige Vorbereitung

Ich bin ein Mensch, der immer etwas zu tun haben muss. Ich konnte die Wochen vor der mündlichen Prüfung nicht einfach nur absitzen, um dann eine Woche vorher mit dem Lernen anzufangen. Gleich nach den schriftlichen Prüfungen begann ich also, meine alten Ethikhefter hervorzukramen und alle Themengebiete zu einer großen Übersicht zusammenzufassen. Die 26 Seiten, die dabei herauskamen, kosteten mich etwa eine Woche mit 15 Stunden Arbeitszeit, aber ich war mit dem Endergebnis zufrieden.

Der nächste Schritt bestand darin, für die mündliche Prüfung diese 26 Seiten auswendig zu lernen – eine unschöne Aufgabe, denn wer mich kennt, der weiß: Ich hasse Auswendiglernen. Es bedeutet für mich, den neuen Stoff durchzulesen, etwa dreimal laut durchzusprechen (sprich 4 Seiten an einem Tag dreimal am Tag durch …) und den alten Stoff ebenfalls zweimal zu wiederholen. Keine Ahnung, wie ich es geschafft habe, aber nach weiteren sieben Tagen beherrschte ich die Inhalte meiner Übersicht einigermaßen.

Entfremdung von der Schule

Bald stand der erste Konsultationstermin an. Ehrfürchtig betrat ich das Schulgebäude, das ich zwei Wochen nicht gesehen hatte und bestaunte die Wände, als sei ich in einem nationalen Museum. Sehr zu meinem Bedauern konnte uns Frau Lind, unsere Ethiklehrerin, den Termin für die mündliche Prüfung noch nicht mitteilen. Das Gefühl der Unwissenheit, das ich überhaupt nicht mochte, mich aber schon die ganze Corona-Zeit begleitet hatte, blieb also noch eine Weile länger bestehen.

Die zwei Wochen bis zum nächsten Konsultationstermin nutzte ich halbtags für Schule. Alle Themengebiete wurden einzeln erneut durchgearbeitet. Ich schaute mir Videos an (besonders zu empfehlen sind hier die Philosophie-Erklärungen von Dr. Christian Weilmeier…) und schrieb Artikel für meinen Blog samt philosophischen Theorien und Beispielen dazu. Den ersten über Erkenntnistheorien habe ich bereits veröffentlicht, die anderen werden folgen.

Was ich genau an den Nachmittagen machte, kann ich hier gar nicht aufzählen. Im Rückblick verschwimmen meine Erinnerungen daran. Es muss ein Mix aus Arztterminen, Treffen mit Freunden und Radtouren gewesen sein. Außerdem traf ich mich mit Luca, der auch seine mündliche Prüfung im Fach Ethik ablegen würde. So ging das wiederum mehrere Wochen. Es ist komisch, mir vorzustellen, wie sehr mein Leben sich in den letzten Monaten gewandelt hatte. (Mal ganz zu schweigen davon, wie es sich im Herbst zu meinem Studienbeginn wandeln wird…)

Prüfungsergebnisse

Auf der Sternstraße herrscht morgens immer viel Verkehr.

Und dann, irgendwann, kam der 16.06. An diesem Tag hatte ich im Straßenverkehr so viel Pech, wie man nur haben kann: die halbe Strecke ein 40 km/h fahrender Traktor und zwei LKWs vor mir, ein Haufen roter Ampeln und der typische Stress auf der von Fußgängern, Radfahrern und Autos vielgenutzten Sternstraße in Wittenberg. 3 Minuten zu spät erreichte ich die Schule und sprintete durch die Gänge, grüßte noch meinen alten Geschichtslehrer auf dem Weg und erreichte schließlich den Bioraum, in dem mein Kurs und meine Tutorin schon auf mich warteten.

Nein, es stand kein Biologieunterricht an. Vielmehr bekamen wir die Ergebnisse unserer schriftlichen Prüfungen zurück. Doch zunächst musste ein Corona-Schnelltest gemacht werden (alle waren negativ), ich führte die Liste bei der Bücherabgabe unserer ausgeliehenen Schulbücher und wir wurden zu den mündlichen Prüfungen belehrt. Erst jetzt begann sich so etwas wie Aufregung in meinem Magen zu regen. Tatsächlich war ich vorher so mit anderen Dingen in meinem Kopf beschäftigt gewesen, dass mich meine Notenpunkte kaum interessiert hatten.

Fast als letzte erhielt ich den Zettel mit meinem bisherigen Abiturschnitt. Da gab es so viele Zahlen, dass ich Luca fragen musste, wo denn die Ergebnisse zu finden waren. Als ich sie endlich sah, musste ich ein Lachen unterdrücken – und das nicht, weil sie so außerordentlich gut waren. Ich hatte einfach in allen vier Prüfungen die gleiche Punktzahl. Und das, obwohl ich so ein unterschiedliches Gefühl beim Schreiben gehabt hatte … Im Nachhinein kursierten im Jahrgang Gerüchte, dass mein Abi sehr gut gewesen sein soll. Nun ja, sehr gut ist schließlich relativ zu sehen. Als ich nach meinen Ergebnissen gefragt wurde, antwortete ich nur: Ich bin zufrieden. Und das stimmte. Ich war zufrieden mit meinen durchgehenden 12 Notenpunkten.

Prüfungstermin

Nach der Tutorenstunde trafen wir zufällig auf Frau Lind. Sie teilte uns mit, dass bereits in sechs Tagen unsere mündliche Prüfung stattfinden würde – und dass ich die erste an diesem Tag sei. Unser letzter Konsultationstermin war durch die Tutorenstunde ausgefallen, aber da wir keinerlei konkrete Fragen hatten, stimmten wir darin überein, ihn nicht nachzuholen. Fragen würden wir per E-Mail an Frau Lind persönlich stellen können.

Ich verließ mit Luca die Schule. Bei ihm zuhause wollten wir uns gegenseitig Fragen ausdenken, um die mündliche Prüfung zumindest einmal vorher durchzuspielen. Schnell hatten wir in den Ethikbüchern passende Texte gefunden und dachten uns dazu Aufgaben aus. Dann hatten wir 20 Minuten Zeit, die Aufgaben stichpunktartig zu beantworten. Luca hatte sich für mich das Thema Utilitarismus ausgedacht. Der Text war gut zu verstehen und ich gewann Zuversicht, dass ich den Vortrag gut meistern würde.

Die Aufregung steigt

Ein wenig durcheinander stellte ich sodann meine Lösungen vor. Die Zeiteinteilung war schwieriger als gedacht, sodass ich bei der letzten Aufgabe mehr ausholen musste, um die 10 Minuten vollzukriegen. Doch Luca schien ganz zufrieden mit mir. Auch er meisterte seinen Redeteil den Umständen entsprechend gut und wirkte dabei noch sehr viel selbstsicherer, als ich es wohl jemals sein würde.

Auf die Fragerunde nach der Mittagspause hatten wir beide kaum Lust, doch wir hatten uns vorgenommen, die ganze mündliche Prüfung durchzuspielen und das taten wir. Ich hatte schon zuvor aus allen möglichen Quellen Prüfungsfragen zusammengetragen, die wir uns jetzt gegenseitig je 10 Minuten stellten. Schnell merkte ich, dass die konkreten Fragen mir sehr viel leichter fielen als der Vortrag. Dies verschaffte mir zumindest etwas Erleichterung.

Die letzten Tage vor der mündlichen Prüfung waren komisch. Ich versuchte erneut so viel Wissen wie möglich in mich reinzustopfen und schaute mir zahlreiche Videos an, um bei der Prüfung ja genug praktische Beispiele zur Hand zu haben. Am Montag war mir fast den ganzen Tag komisch. Konnte das die Aufregung vor dem morgigen Tag sein?

Tag der Tage

Ja, ich habe mir ein ambitioniertes Ziel gesetzt. Doch es ist möglich.

Der 22.06. brach an. Eigentlich ein schlechter Tag für eine mündliche Prüfung, denn einen Tag zuvor war Sommersonnenwende gewesen und die kürzeste Nacht des Jahres hatte ich eigentlich mit einer Nachtwanderung feiern wollen. Stattdessen ging ich früh ins Bett, um am Dienstag gegen 5:30 Uhr aufzustehen. Nur die nächsten drei Stunden überstehen und dann ist alles geschafft, versuchte ich an diesem Morgen meine Nerven zu beruhigen – semierfolgreich.

Natürlich machte ich mir Stress, denn das mündliche Prüfungsergebnis würde über eine Kommastelle meines NC’s entscheiden. Ich zweifelte nicht daran, über 10 Notenpunkte zu erreichen. Damit war mir ein Schnitt von 1,3 sicher. Was ich meiner Familie allerdings nicht erzählt hatte: mit 14 oder 15 Punkten konnte ich auch die 1,2 noch erreichen. Ein ambitioniertes Ziel, doch wer nicht nach den Sternen griff, konnte sie auch nie in der Hand halten, oder?

Pünktlich fuhr ich zuhause los und traf vor der Schule auf Philip. Er hatte zur gleichen Zeit, 7:20 Uhr, Prüfungsbeginn und war so aufgeregt, wie ich ihn selten erlebt hatte. Gemeinsam begaben wir uns Richtung Prüfungsraum, um uns dann gegenseitig Glück zu wünschen. Die nächsten fünf Minuten wartete ich alleine vor dem Prüfungsraum, bis Herr Paulus, der Prüfungsleiter, mich abholte und mir zeigte, wo ich meine Sachen abstellen konnte.

Ich trat in den Prüfungsraum und begrüßte auch meine Ethiklehrerin Frau Lind (heute meine Prüferin) sowie Frau Mast, welche ich aus früheren Schuljahren kannte und heute das Protokoll führen würde. Ich wurde gebeten, eines von zwei Prüfungsthemen zu ziehen. Oben oder unten? Oben oder unten? Ich wusste, das Thema konnte den Ausgang dieser Prüfung stark beeinflussen. Ich öffnete den oberen Umschlag und sagte: „Thema 2“. Daraufhin reichte Frau Lind mir zwei Blätter. Auf dem ersten sah ich das Thema: Moralische Prinzipien prüfen. Utilitarismus. Ich musste innerlich lachen. Ein sehr schöner Zufall.

Die kürzesten 40 Minuten meines Lebens

Im Vorbereitungsraum traf ich auf Philip. Er arbeitete schon. Wir tauschten kurz Blicke. Dann machte ich mich an die Arbeit. Obwohl Frau Lind gesagt hatte, die mündliche Prüfung würde einen unbekannten Text in den Aufgaben enthalten, kam mir die Quelle mehr als bekannt. Genau diesen Text von Gilbert Harman hatte ich mir schon bei den Vorbereitungen angesehen. Wieder lächelte ich innerlich.

Kaum hatte ich mir die Aufgaben durchgelesen, waren die 20 Minuten um und Herr Paulus geleitete mich erneut in den Prüfungsraum. Es wurde ernst. Während ich vor den drei Ethiklehrern stand und meine Ergebnisse vortrug, wusste ich gleich, ich redete zu viel. Da waren so viele Stichpunkte in meinem Kopf, die alle ausgesprochen werden wollten. Mehrmals tippte Frau Lind an ihre Uhr, um mir zu zeigen: Du solltest langsam zur nächsten Aufgabe kommen. Ich redete also umso schneller weiter.

Die Fragerunde stand an. Ich setzte mich. „Das Thema deiner Fragerunde ist Religionsphilosophie“, begann Frau Lind. Uhh, Religionsphilosophie war ein einfaches Thema! Gewissenhaft (und wahrscheinlich wieder zu ausführlich) beantwortete ich alle Fragen. Es waren reine Lernfragen, von Funktionen der Religionen über Gottesbeweise und Religionskritik, sodass auch diese zehn Minuten sich eher wie drei anfühlten.

Und plötzlich war es geschafft

Draußen auf dem Flur, die Lehrer berieten gerade über mein Ergebnis, traf ich Luca. „Wie lief’s?“, fragte er mich. „Sehr gut, denke ich.“ Dann fügte er hinzu: „Ich hab‘ dir noch viel Glück gewünscht, aber dann war es schon zu spät.“ Ein paar Minuten musste ich warten. Jegliches Zeitgefühl hatte mich verlassen. Endlich rief mich Herr Paulus erneut in den Prüfungsraum. Und mein vorläufiges Prüfungsergebnis lautete: 14 Notenpunkte! Ob ich mich freue?, fragte Frau Lind. Ja, natürlich! 1,2. 1,2. 1,2. „Damit hast du meine hohen Erwartungen an dich erfüllt“, fuhr meine Ethiklehrerin fort.

Es muss ein herrliches Bild gewesen sein: drei glückliche Ethiklehrer und eine glückliche Schülerin im Halbkreis. Auf eine Frage von Frau Mast hin erzählte ich noch kurz von meinem Plan, Physik zu studieren. Ihre erstaunten Augen waren keine Überraschung für mich. Mittlerweile fand ich die teilweise Unverständnis ausdrückenden Gesichter anderer Personen, wenn sie von meinem Physikstudium als Mädchen erfuhren, mehr amüsant als alles andere. „Nun ja, Ethik hat ja auch eine große Bedeutung in der Wissenschaft“, meinte Frau Lind. Ja, ich mochte Ethik. Und ich mochte Frau Lind. Doch jetzt hieß es sich zu verabschieden. Man wünschte mir alles Gute und ich verließ den Prüfungsraum.

„Und?“, fragte Luca. „14 Punkte“, antwortete ich mit einem Lächeln, „ich drück dir auch die Daumen.“ Ich schickte Philip eine Nachricht mit der Frage, wie seine mündliche Prüfung gelaufen war und fuhr Richtung Heimat. Jetzt würde ich meiner Familie einen Besuch abstatten – und danach? Naja, Schule stand die nächsten Wochen definitiv nicht auf dem Plan. Ich war frei. Die nächsten drei Monate bis zum Studium konnte ich einfach mal das Leben genießen. Doch wie würde ich mich die ganze Zeit beschäftigen?

Vielleicht könnte ich jetzt die Welt erkunden …

Ob ich mit meinem Abischnitt zufrieden bin und wie meine Bilanz nach den letzten zwei Schuljahren aussieht, erfährst du im nächsten und gleichzeitig letzten Artikel dieser Reihe. Klicke hier.

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